- Messe und Oratorium: Geistliche Musik der Wiener Klassik
- Messe und Oratorium: Geistliche Musik der Wiener KlassikDie Geschichte der geistlichen Vokalmusik im ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem die der großen Gattungen Messe und Oratorium, ist in seinen komplexen funktionalen, regionalen und ästhetischen Belangen noch nicht genügend erforscht. Gleichwohl wäre hier Wesentliches über die Klassik zu erfahren, und zwar aus gewissermaßen randständiger Sicht. Denn Messe und Oratorium, so bedeutende Werke auch komponiert wurden, gehören zu den zumindest problematischen Gattungen der Wiener Klassik. Mit der Emanzipation der Instrumentalmusik im späten 18. Jahrhundert, die eine Lösung aus dem Bann traditioneller Bindungen an den (absolutistischen) Hof und die Kirche bedeutete, verbindet sich eine wichtige sozialgeschichtliche Komponente: Mit der »Verbürgerlichung« der Musik einher geht ihre Profanisierung. Musik wird nicht nur primär instrumental, sondern auch primär weltlich. Jedenfalls mokierten sich schon die Zeitgenossen über »frivole«, weltliche Töne in der Kirchenmusik, deren Texte man nur austauschen müsse, um »Operettchen« daraus zu machen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts waren im österreichischen Kaiserreich zum Beispiel Trompeten und Pauken in den Kirchen zeitweise verboten, ebenso auch die Aufführung von (vertonten) Messen. Zugleich aber blieb die strenge, »alte« und allzu »künstliche« Schreibart verpönt. Besonders auffallen musste das Dilemma bei den Hauptgattungen Messe und Oratorium. Dennoch scheinen Haydn und Mozart keine Last damit gehabt zu haben, den »wahren« Ton zu treffen, einen Ton, der dem Anlass nicht abträglich und im kompositorischen Satz dennoch zeitgemäß, ja neu war.Von den 14 Messen Haydns stammen die sechs großen, »klassischen« aus seiner »nachsinfonischen« Zeit. Sie entstanden ab 1796 jährlich zum Namenstag der Fürstin Maria Josepha Esterházy, waren aber über diesen Anlass hinaus offenbar von vornherein, wie bei Haydn üblich, für die Verbreitung durch den Druck gedacht. Mit diesen Werken bekundet Haydn wie nie zuvor seine Befähigung zu »klassischer« Verschmelzung von Vokal- und Instrumentalsatz. Waren 1795 die letzten Sinfonien geschrieben, so erscheint sein ein Jahr später einsetzendes Messe-Schaffen wie eine konsequente Fortsetzung und Erweiterung des bisherigen Weges. Mozart hatte längst (oder von vornherein) die Synthese gefunden, in der im Instrumentalen das Vokale aufgehoben ist. Haydn fand erst eigentlich in diesen Messen, motiviert durch die Eindrücke, die er aus seinen zwei Englandreisen (1790 und 1794) und dort aus dem praktischen Umgang mit der Musik Georg Friedrich Händels mitgebracht hatte, zum »klassischen« Vokalsatz, dessen »sinfonische« Anlage und dessen daher so weltlich erscheinender Ton dem auftraggebenden Fürsten keineswegs, wohl aber dem Caecilianismus des 19. Jahrhunderts als ein ernsthafter Mangel erschien.Als eigentlicher Höhepunkt und zugleich als Fortsetzung des Händelschen Erbes gelten die beiden großen Oratorien, »Die Schöpfung« (1798) und »Die Jahreszeiten« (1801). Wie der erklommene Gipfel eines Lebensweges, wie die Summa des gesamten Schaffens stehen diese Oratorien Haydns da und haben zu einer Universalität der Musiksprache gefunden, die alles Bisherige in sich vereinigt. Dazu gehört die Besetzung mit »allen« Stimmen (Vokal- und Instrumentalchor, Solisten), die Versammlung »aller« musikalischer Gestaltungs- und Ausdrucksprinzipien wie Fuge, Lied, Choral, Arie, Rezitativ, sinfonischer Instrumentalsatz, aber auch, und das ist besonders auffällig, die Vielzahl »malender« Mittel als Momente der bildfähigen Sprachlichkeit der Musik; ferner der »alles« umfassende Stoff (Schöpfung der Welt, Natur, Mensch), die Wirkung auf das breiteste damals erreichbare Publikum und der unglaubliche Erfolg der Werke. Auch die trotz geradezu greller Vielfalt durchweg wahrnehmbare Einheit der Oratorien, vor allem der »Schöpfung«, ihre elementare Klarheit, die einfache Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die allgemeine Gültigkeit der Musiksprache und der Aussage, die gestalterische Konsequenz der kompositorischen Gesamtanlage und vieles mehr ist immer wieder als vorbildlich und »klassisch« gerühmt worden.Demgegenüber scheint Mozart mit seiner Übersiedlung nach Wien 1781 keine große Lust mehr verspürt zu haben, geistliche Vokalmusik zu schreiben. Die meisten seiner kirchenmusikalischen Werke stammen aus der Salzburger Zeit, in der er im streng geregelten Hofdienst unter dem Fürsterzbischof Hyronimus Joseph von Colloredo-Waldsee unter anderem 17 Messen hat komponieren müssen. In Wien entstand überhaupt nur eine einzige Messe, nämlich die in c-Moll (1782/83); nach eigenen Worten die Einlösung eines Gelöbnisses, das er an die Heirat mit Konstanze geknüpft hatte. Aber das Werk blieb unvollendet, und die fehlenden Teile wurden bei der Aufführung vermutlich aus anderen Messen ergänzt. Auch das berühmteste kirchenmusikalische Werk der Zeit, Mozarts Requiem, ist bekanntlich nicht vollendet. Die eigentümlichsten, meist romantische Legenden ranken darum. Dass es ein Auftragswerk war, gilt als sicher, ebenso, dass Mozart seit Mitte 1791 daran intensiv gearbeitet hat und der Tod die Vollendung verhinderte. Zu Ende geschrieben hat es Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayer. Freilich ist nach wie vor umstritten, wie groß der Anteil Süßmayers tatsächlich ist. Fest steht, dass Mozart das »Requiem aeternam« und das »Kyrie« ganz und vom »Dies Irae« zumindest den Chorsatz und den Bass (ohne Instrumentierung) komponiert hat. Etliches aus den anderen Teilen könnte ebenfalls in Skizzen oder Entwürfen von ihm stammen. Jedenfalls ist vieles, so sagt man, viel zu gut, als dass es Süßmayers Feder zuzutrauen wäre, der behauptet hatte, von ihm allein seien das Ende des »Dies Irae« sowie das ganze »Benedictus« und »Agnus dei«.Es gehört zu den typischen Rezeptionsmustern des 19. Jahrhunderts (bis heute), dass ein Werk um so größere Aufmerksamkeit erfährt, je intensiver es mit Geheimnissen, Tod oder Abbruch zu tun hat. Schuberts »Unvollendete« ist das vielleicht berühmteste Beispiel. Gleichwohl lässt sich durchaus erkennen, an welch bedeutsamem Werk Mozart arbeitete. Die Distanz des Requiems zur c-Moll-Messe von 1783 ist jedenfalls unglaublich groß. Vor allem die kompositorische Erfahrung aus seinen Opern »Tito« und der »Zauberflöte«, die beide zu eben dieser Zeit entstanden und beendet wurden, sind in das Requiem eingegangen. Die Musik hat den für Mozart typischen Moll-Ton: innig, sehnsuchtsvoll, wehmütig, wie er zum Beispiel auch das d-Moll-Klavierkonzert (KV 466) prägt, oder dramtisch-aufgewühlt wie das c-Moll-Konzert (KV 491). Zugleich ist sie in der Subjektivität des Ausdrucks und mit den klassischen Mitteln menschlichen Singens stets auch auf das Umfassende, Ganzheitliche der Aussage gerichtet. An diesem kirchenmusikalischen Ton hat im Unterschied zur Rezeption der Oratorien Haydns im 19. Jahrhundert niemand je Anstoß genommen, denn auch hier hat Mozart, unter der besonderen Bedingung des liturgischen Requiemtextes, das »mittelding« getroffen.Beethoven hat überhaupt nur drei geistliche Chorwerke geschrieben, das Oratorium »Christus am Ölberge« (1803) und die beiden Messen in C-Dur (1807) und D-Dur (»Missa solemnis«, 1823). Das Oratorium entstand offenbar aus eigener Initiative und war nicht nur der erste, sondern auch der einzige Versuch Beethovens auf diesem Gebiet. Er selbst hielt es für nicht sonderlich gelungen, was er auch dem Text, aber diesem nicht allein, zuschrieb; er ließ es erst spät drucken und nahm dann Abstand davon, in diesem Fach Neues und Besseres zu leisten. Das Werk mag durchaus einer zeitüblichen Frömmigkeit entsprechen, wirkt aber gerade darin auch zeitgebunden und ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Ganz anders die beiden Messen. Die C-Dur-Messe könnte vielleicht als die eigentümlichste, die »Missa solemnis« - die groß angelegten, musikalisch besonders festlich ausgestatteten Messen sind alle »Missae solemnes« - als die exzeptionellste aller Messevertonungen bezeichnet werden.Das C-Dur-Werk ist eine Auftragskomposition für den Fürsten Nikolaus II. Esterházy, der sie wie schon die sechs großen Haydn-Messen für den Namenstag seiner Gattin bestellt hatte. Und Beethoven scheint mit ihr tatsächlich auf diese Tradition und auf Haydn Bezug zu nehmen. Die Messe steht also in mehrfacher Hinsicht in unmittelbarer Nachbarschaft zu denen Haydns, dessen letzte 1802 entstanden war. Aber der Unterschied ist gewaltig. Wie mit dem dritten Klavierkonzert und der dritten Sinfonie »Eroica« so ist es mit der C-Dur-Messe: trotz fast zitathafter Beziehungen gerade auf Haydn findet der Jüngere eine völlig neue Musiksprache, eine völlig neue Art der Textbehandlung und eine bis dahin nicht gekannte Intensität des Ausdrucks. Der Fürst lehnte das Werk ab und fand es »insuportablement ridicule et detestable« (= unerträglich, lächerlich und abstoßend). Allerdings haben sich auch die Zeitgenossen sowie die Nachwelt (bis heute) nie recht damit anfreunden können. Extreme Mittel, die Heftigkeit vieler Kontraste, die Rücknahme einfach-singender Elemente, die prägende Funktion des Wortes, auch des Einzelwortes, und seiner eigensinnigen (wenngleich immer verständlichen) Auslegung hat bei aller kompositorischen Kunst, bei allem verblüffenden Reichtum der Einfälle und auch bei aller ehrlichen Offenheit der Musik doch stets auch etwas Brüskes, Heterogenes, Gewolltes, worin der Hörer mitunter den Sinn für Bögen und Zusammenhänge verlieren kann. Und neu ist ein nicht einmal weltlicher, sondern der »konzertante« Ton. Beethovens C-Dur-Messe ist vielleicht die erste, die, obgleich durchaus liturgisch verwendbar, zumindest auch für Konzertaufführungen außerhalb des Gottesdienstes und sogar außerhalb der Kirche konzipiert scheint.Darin ist sie eine Vorgängerin der »Missa solemnis«, die Beethoven ursprünglich zwar für ein feierliches Hochamt begonnen hatte, die jedoch unter den Händen ihres Schöpfers zu einem Werk geworden war, das alle liturgischen Grenzen sprengt und eigentlich nur noch im Konzert aufführbar ist. Beethoven hat das nicht nur selbst so geäußert. Er meinte, die Messe könne »als Oratorium. .. gegeben werden«, also konzertant. Die Uraufführung hatte bereits im Rahmen eines philharmonischen Konzertes in Sankt Petersburg stattgefunden, bevor Teile davon, nämlich »Kyrie«, »Credo« und »Agnus dei«, in Beethovens legendärem Konzert 1824 im Kärntnertor-Theater, in dem auch die Neunte Sinfonie erstmals erklang, für die Wiener zur Aufführung kamen. Dabei hatte er sogar eigens den kaiserlichen Erlass zu umgehen, der die Aufführung von Messen oder Messeteilen außerhalb der Kirche verbot. Auf dem Programm hießen die Sätze »Hymnen«. In liturgischem Rahmen ist die Messe zwar vereinzelt aufgeführt worden (erstmals 1830 in Böhmen). Ihren Ort hat sie jedoch zweifellos im Konzert, ohne dass damit freilich die Aussage dem Wesen nach tangiert würde. In der Erhabenheit, in der Größe und im Ernst des Werkes wird hier das Konzert selbst - zumal das von 1824 - zur Andacht. Der Kirche konnte das nicht Recht sein und der Streit um die »wahre Kirchenmusik« wurde einmal mehr entfacht. Allerdings war der Musik schon in den damaligen Diskussionen um ihren Rang als Kunstgattung die Funktion eines Religionsersatzes, eines Gegenstandes von Andacht zugefallen. Das galt vor allem für die reine Instrumentalmusik und insbesondere für die Sinfonie. Die »Missa solemnis« fügte sich in ihrem sinfonischen Anspruch und in ihrer monumentalen Größe (zu der auch die Momente der Stille gehören) also in diesen Kontext ein, konkretisiert jedoch das Moment des Religiösen durch Text und Haltung.Anders als in der C-Dur-Messe hat Beethoven hier zu einer Musiksprache gefunden, die zwar wie dort vom Text ausgeht, den Instrumentalapparat jedoch gleichsam vokal daran beteiligt. Der Instrumentalsatz und die rein instrumentalen Partien sind primär vom Wort geprägt, so dass, wie schon die Zeitgenossen bemerkten, »die Gefühle auch vor dem Eintritte der Singstimmen von den Instrumenten so wahr entwickelt« würden, »dass der Hörer beim ausgesprochenen Wort nur die Bestärkung der in seiner Seele gebildeten Erregung und Anschauung erhält«. Diesem (klassischen) integrativen Moment von Vokal- und Instrumentalsatz steht freilich die ungemeine Dichte und Artifizialität des gesamten Werkes ebenso wie die Versammlung und Verarbeitung der verschiedensten musikalischen Idiome und kompositorischen Mittel gegenüber. Darin ist die »Missa solemnis« zweifellos einzigartig. Man hat versucht, die inneren Zusammenhänge, die sich dem Hören (wie bei der C-Dur-Messe) keineswegs sofort oder alsbald erschließen, motivisch zu bestimmen und stößt dabei auf ein Geflecht der Beziehungen und Verweise, der »submotivischen« Verknüpfungen und unterschwelligen Relationen, das in seiner Komplexität kaum zu entschlüsseln ist. Andererseits vermag das Werk den Hörer auf eine Weise zu fesseln, die nicht auf Verstehen, sondern auf intuitives Erfassen der Größe dessen, was sich da abspielt, aus ist und ihn in Bann schlägt. Tatsächlich ist »die Kluft zwischen einer vielleicht nur scheinbaren Beliebtheit und der tatsächlich schwierigen Entzifferbarkeit des Werkes« unübersehbar. Für die Musikgeschichte des 19. Jahrhundert von sekundärer Bedeutung, ist die »Missa solemnis« heute in gewissem Sinne das geistliche Pendant der neunten Sinfonie geworden, mit dem Unterschied freilich, dass diese mittlerweile zu bloßer Festmusik verkommen ist, während die Messe in ihrer herben, gleichsam Geist gewordenen Musik eine gewisse distanzierter, rationale Bewunderung auslöst.Prof. Dr. Wolfram Steinbeck
Universal-Lexikon. 2012.